Kunsthistorikerin  Dr. Ulrike Lehmann, Düsseldorf 2025


Anna Tatarczyk ist eine zeitgenössische Malerin, deren Werk durch die konsequente Verwendung der Rautenform geprägt ist. Diese geometrische Grundform ist zugleich Motiv, Inhalt und Ausdruck ihrer Kunst. Auf groben, naturbelassenen Leinwänden setzt Tatarczyk die Raute als singuläres Element in Szene. Der puristische Ansatz ihrer Kompositionen verbindet die Strenge der Geometrie mit der organischen Wirkung des Materials, wodurch ein spannungsvolles Wechselspiel zwischen Natur und Form entsteht.

Die Raute fungiert in Tatarczyks Werk als Symbol für Stabilität und Transformation. Ihre symmetrische Grundstruktur und singuläre Erscheinung vermitteln Ruhe, während das Innenleben durch spektralartige Farbstreifen und Felder dynamisiert wird. Diese prismenartigen Anordnungen verzerren die Perspektive und verleihen der zweidimensionalen Form eine scheinbar dreidimensionale Präsenz. So wird jede Raute in Tatarczyks Bildern zu einer einzigartigen optischen Erfahrung – zwischen Ordnung und Illusion, Statik und Bewegung.

Tatarczyks Farbpalette reicht von monochromen Nuancen bis zu leuchtenden, kontrastreichen Kombinationen. Dabei steht für sie der Effekt des Lichts im Mittelpunkt. Sie selbst sagt: „Mit den Farben und einer exakten Mischtechnik gelingt es mir, die dritte Dimension hervorzuzaubern und sozusagen ‚das Licht zu malen‘.“ Ihre kaleidoskopartigen Rauten erschaffen eine visuelle Welt, die den Betrachter dazu einlädt, Details aus immer neuen Blickwinkeln zu entdecken. Die Künstlerin nutzt die Form, um den Bildraum zu dekonstruieren und neu zu definieren, wodurch Bewegung und Transformation greifbar werden.Mit ihrer einzigartigen, individuellen Interpretation der Rautenform und deren facettenreichen Innenleben führt Tatarczyk die Konkrete Kunst in eine neue Richtung. Sie zeigt, wie unerschöpflich die Möglichkeiten einer einzigen Form sein können und fordert dazu auf, Geometrie, Farbe und Licht in einem neuen Kontext zu betrachten. 





Einführung zu

RHOMBEN

von Anna Tatarczyk

im Maxhaus 14.2.25

 

Was ist ein Rhombus, auch Raute genannt? Die mathematische Antwort darauf lautet: ein Viereck bei dem alle Seiten gleichlang sind. Automatisch ergibt sich daraus, dass die Winkel in der Raute, die sich gegenüberliegen, auch gleich groß sind.

Auch „Diamant“ nennt man diese Form.

Ein schöner Hinweis!

Benutzt man diese Form wie Anna Tatarczyk, die sie geschickt in die gemalte Dreidimensionalität überführt, wirkt sie klar, strukturierend und kristallin, was ihr dadurch die Anmutung von etwas Unzerstörbarem gibt. 

Man sollte meinen, dass eine solche Form kein guter Ausgangspunkt für Malereien darstellt. Zu fest, die Malfläche zu definierend – aber die Raute hat auch andere Aspekte. Man kann sich vorstellen, dass sie auf ihrer Spitze steht, dann bekommt sie nahezu etwas balancierend-tänzerisches. Man kann sich auch vorstellen, dass sie sich in den Himmel erhebt, sie hat ja auch die Form eines Drachens.

Rauten tauchen auf Spielkarten auf und lassen sich zu interessanten Mustern verarbeiten. Rauten füllen die Zwischenräume von Jägerzäunen und von gezeichneten Schraffuren. Sie tauchen auf Schildern und Logos insbesondere von Sportvereinen auf. Das Emblem von Borussia Mönchengladbach ist eine Raute, ebenso wie das von Werder Bremen oder Dynamo Kiew.

Die Raute steht als Urform zudem für die Vulva, ist ein Fruchtbarkeitssymbol, seit Menschen mit Kohlehölzchen auf Steine kritzeln. In der Zeichensprache der Gauner und Vaganten des Mittelalters wurden die Häuser von Prostituierten damit gekennzeichnet.

Das mag uns zu dem schönen Schluss bringen, dass, wenn man etwas zu lange betrachtet, dieses Eine zu Allem wird und damit auch zu gar nichts. Damit wir davon verschont bleiben, brauchen wir jemanden, der diese Urform erweckt, sich einverleibt, sie verwandelt, sie erneuert.

Dass Anna Tatarczyk aus der gestischen Malerei kommt, davon konnte man sich in der Ausstellung von 2019 hier im Maxhaus überzeugen. Wobei auch bei den älteren Arbeiten durchgezogene Streifen und abgeklebte Flächen, die einen mehrdimensionalen Bildraum erzeugen, bereits eine große Rolle spielten. Ich habe hier ein Foto mitgebracht, das aus der Zeit stammt, als ich 2018 ihr Atelier besucht habe. Darauf ist platzfüllend ein großformatiges Gemälde zu sehen, dass auch im Maxhaus gezeigt wurde, aber ganz an der Seite, sieht man bereits ein kleines Bild mit einem Rhombus. Dass sich die Künstlerin über die letzten 5 Jahre zu einer derart konkreten Form hingezogen fühlt, ist ungewöhnlich.

Sie selbst sagt dazu, dass sie in diesen Bildern ihre gesamten malerischen Erfahrungen bündelt.

Ihre Werke sind überraschend und erstaunlich, sowohl für die „Kunstwelt“, die schnell auf ihre Arbeiten aufmerksam geworden ist, als auch für ihre Künstlerkollegen, die einen solchen Sprung nicht erwartet haben.

In der Regel wird ein derart entschiedener Wandel als Riss wahrgenommen, vielleicht sogar als Verzweiflungstat. Bei Anna Tatarczyk wirkt das nicht so. Sie hat die Raute mit aller Entschiedenheit aufgegriffen und schafft aus dieser Urform eine Vielfalt, die in ihrer Stimmigkeit schlichtweg verblüffend ist.

Dabei erscheinen Ihre Varianten nicht als Variationen eines Themas, sie dekliniert nichts durch, wie das so manch anderer Malerkollege oder -kollegin macht oder gemacht hat, sonder jeder Rhombus hat seine eigene Geschichte, seine unverwechselbare Ausstrahlung, seinen eigenen Spirit. 

Wenn man sich Gedanken macht, worum es in diesen Bildern eigentlich geht, also Zuordnungen sucht, tritt man von einem fettigen Napf in den nächsten. Denn Tatarczyks Bilder sind frech, sie ecken im wahrsten Sinne des Wortes überall an. Sieht man sie im Bereich der Konkreten Kunst, was einem vielleicht als erstes durch den Sinn gehen mag, sind sie in ihrer Farb- und Formenfreude eigentlich zu dionysisch. In ihrem Umgang mit Flächen und Linien steckt eine erzählerische Komponente. Die geistige Strenge der Konkreten, in der alles an seinem Platze zu sein hat, wird eher umspielt, als eingehalten. Auch eine Untersuchung der Form oder bestimmter Farbverhältnisse durch Deklination wird tänzerisch aus dem Weg gegangen, als wolle die Künstlerin sagen, dass sie wichtigeres zu tun habe.

Trotzdem kann man nicht sagen, dass in Ihren Bildern etwas deplatziert wirkt. Es ist alles an der richtigen Stelle; es wird lediglich kein Aufhebens darum gemacht.

Ihre Rhomben überführt Anna Tatarczyk in den dreidimensionalen Bildraum und verwendet damit nicht unerhebliche Effekte. Dadurch entstehen Licht und Schatten quasi von selbst. Aber man hat zudem das Gefühl, dass viel natürliches Licht in ihren Bildern auftaucht. Die Gemälde wirken nicht nur geometrisch, sie wirken auch licht. Manchmal ist es ein geheimnisvolles Licht, dass aus ihnen zu leuchten scheint.

Manchmal das Licht des hellen Tages.

Mit ihrer Lust an starker Farbigkeit und abgegrenzten Flächen erinnern Tatarczyks Bilder an die Popart. Doch ihren pop-affinen Kollegen begegnet sie mit der Schlichtheit einer einzigen Form.

In manchen, wenigen Bildern setzt sie die Raute als Konstruktionselement ein, wie hier in den Gemälden mit dem Fotoapparat und der Tulpe und den beiden Eiern zu sehen ist.

Die Räumlichkeiten des Maxhauses sind wie gemacht, um einen Einblick in Anna Tatarczyks aktuelle Bilderwelt zu geben.

In den Wandelgängen des ehemaligen Franziskanerklosters können wir die einzelnen Werke wie Lebewesen nebeneinander zur Geltung kommen sehen.

 

     

 


Ordnung von Welt
Zum Werk von Anna Tatarczyk

Klarheit ist Wahrhaftigkeit in der Kunst.

(Marie von Ebner-Eschenbach)


Die geometrisch bestimmte Abstraktion hat in den vergangenen 100 Jahren einige Wandlungen erfahren – und als die so genannte Konkrete Kunst ihre Haltung etabliert hatte, dass Farbe und Form allein keineswegs abstrakt, sondern genauso konkret wie jedes beliebige bildnerische Motiv seien, wurde das geometrische Alphabet vielfach durchdekliniert. Umso überraschender fällt es auf, wenn sich eine ganz eigenständige Bildsprache aus diesem Geiste heraus gründet. Diesen Eindruck bekommt man vor dem Werk von Anna Tatarczyk. Die mögliche Verortung ihrer Kunst zwischen Op Art und Konkreter Kunst sowie zwischen Minimalismus und Arte Povera macht dieses Werk besonders.

Dass sie ganz anders geprägt wurde, macht den Schritt in die geometrische Abstraktion umso beeindruckender. In ihrer Vita fallen die Namen von Jörg Immendorff auf, dessen Assistentin sie für zwei Jahre war, sowie von A. R. Penck und Siegfried Anzinger, bei denen sie – nach einem Germanistikstudium – an der Düsseldorfer Kunstakademie studierte. Alle drei stehen nun nicht für abstrakte Malerei, wohl aber für ein neues Bewusstsein für die Malerei. Als Anna Tatarczyk sich entschied, die landschaftlichen Elemente ihrer frühen Arbeiten mit geometrischen Formen zu unterlaufen, war die Entscheidung für die Raute als Stilmittel durchaus konsequent. 

Die Raute nimmt unter den geometrischen Formen eine besondere Stellung ein – ihre Einbindung von Drei- und Vierecken macht sie im wahrsten Sinne des Wortes facettenreich, ihre Symbolkraft macht sie über die mathematische Struktur hinweg auch für transzendente, wenn nicht gar mystische Ideen nutzbar. Anna Tatarczyk hat selbst auf die inhaltliche Verwendung rhombischer Formen in der prähistorischen Zeit verwiesen und auch auf die Heraldik, in der die Raute auch oft zum Gegenstand wird. Der Rhombus taugt als informationsästhetisches Element von Verkehrszeichen genauso wie als philosophisches Denkbild – man denke an den Rhomboeder in Albrecht Dürers so berühmtem wie geheimnisvollem »Melencolia«-Bild von 1514 oder an die »Rauten-Zunft« des Dichters Philipp von Zesen innerhalb seiner um 1642 gegründeten »Deutschgesinnten Genossenschaft«, die als Projektion menschlicher Vorstellung auf eine übergeordnete geometrische Ordnung der Welt gedacht war – das himmlische Jerusalem ließ grüßen.

Anna Tatarczyk bedient sich der Raute nicht nur um der Form willen. Sie führt die Konkrete Kunst weiter, die klassischerweise in der Fläche bleibt. In chromatischen Farbabläufen und kristallinen Strukturen bringt die Künstlerin die Symmetrie der Rauten in eine optische Schwingung. Das Auge des Betrachters nimmt einen Mittelpunkt ins Visier, von dem aus der Blick wahlweise nach allen Seiten und regelrecht mit der Rhythmik abfließen kann – oder es macht an einem anderen Punkt Halt, der die Harmonie durchbricht: Die Spannung der Arbeiten ist der Antagonismus von Gleichklang und sphärischen Irritationen. Das Licht, das hier stets mit im Spiel ist macht dieses »konkrete« Werk zu einer erfrischenden Wiederkehr der Op Art. Das wird überdeutlich in der Verräumlichung der Farbstufen. Mit einem grandiosen Gespür für die Licht-Raum-Wirkung der Farbskalen vermag Anna Tatarczyk pyramidale Illusionsbilder aus der Leinwand hervorzaubern – freilich bleibt alles optischer Trug, der jedoch einem faszinierenden Spieltrieb folgt. Denn sie macht bei der vergleichsweise einfachen Pyramidenform nicht Halt, wie sie auch die Raute vielfach fragmentiert, Rauten in der Raute provoziert und deren Logik segmentiert.

Wichtig ist für Anna Tatarczyk die Überwindung der reinen Form, wenn auch nicht der Klarheit. Wir können ihren malerischen Vorgaben objektiv folgen, die Handschrift selbst bleibt verborgen, sprich: es ist keine Pinselspur zu erkennen. Wir konstatieren auch die Reduktion auf einfache geometrische Figuren, auch wenn diese sich in nahezu serieller Varianz vervielfältigen. So kann man die Arbeiten der Künstlerin auch dem Minimalismus zuordnen, wenn man ihn in seiner postmodernen Spielart begreift. Die nämlich widersetzt sich der ursprünglich programmatischen Entpersönlichung durch eine neue Sensibilität, zunächst für die Farbe, dann auch für die Individualisierung. Dafür sprechen die Titel, mit denen Anna Tatarczyk die rhombischen Szenerien dramaturgisch auflädt. »Die befleckte Braut«, »Earth«, »Gypsy«, »Savant«, »Solar Wind« usw. loten menschliche Beweggründe aus, verweisen auf kosmische Zusammenhänge und verrätseln die Inhalte. Dazu kommt noch eine Besonderheit, die man kaum dem Minimalismus zuordnen kann als vielmehr der Arte Povera: Anna Tatarczyk grundiert ihre Leinwände mit transparenten Mitteln, das heißt, sie bleiben im Hinter- bzw. Untergrund naturbelassen. Das steigert nicht nur das eigentliche Motiv, sondern verweist auch die Illusion in seine Schranken: was hier entsteht, ist Malerei und nichts anderes. Die Geometrie, das kristallklare Wesen basiert auf dem Rupfenstoff des Bildträgers. Das erlaubt der Malerin auch mal, sich einen Spaß zu machen mit der scheinbaren Vollendung, wenn sie etwa in der kleinformatigen Serie »Ene, mene muh« die Rautenform selbst verlässt und die Farbe sich selbst spielen lässt, erkennbar vor bzw. über der nackten Leinwand.


Anna Tatarczyk bereichert die nichtgegenständliche Kunst mit ihrer innovativen, vielschichtigen, stringenten und spielfreudigen Bildsprache. In allen Formaten, die zuweilen auch monumental anmuten, schafft sie eine gleichsam vom Verstand wie vom Gefühl geleitete Ordnung, die sich nicht scheut, auch unser aller Denkgebäude nachhaltig zu beeindrucken.


Günter Baumann, Mai 2021 





Anna Tatarczyk. Das Licht malen.

 

Über die Kunstidee von Anna Tatarczyk

Von Xiao Xiao Kunstwissenschaftlerin MA



Was Sie hier sehen ist die Grundform eines dreidimensionalen geometrischen Körpers, dessen Seitenflächen aus Dreiecken besteht und der in unserer realen Welt mit ägyptischen Pyramiden assoziiert wird. Die optische Wirkung einer pyramidenförmigen Geometrie erzeugt Anna Tatarczyk mit Farben in verschiedenen Lichtstufen. Diese experimentelle Idee der Künstlerin folgt der europäischen kunstgeschichtlichen Entwicklung: die unermüdliche Suche nach der Perspektive.

Das perspektivische Sehen ist ein räumliches Sehen. Wir befinden und bewegen uns in einem Raum, der dreidimensional konstruiert ist. Es gibt keinen zweidimensionalen Raum, mit Ausnahme des bildnerischen Raums, der Träger eines Bildes ist. Auf diesem Bildträger bzw. Bildgrund versuchten Künstler seit der Antike, die Welt entsprechend der menschlichen Sehenserfahrung wiederzugeben. Es war stets eine Herausforderung, unter zweidimensionalen Rahmenbedingungen Dreidimensionalität darzustellen! Das räumliche Sehen des Menschen ergibt sich aus dem stereoskopischen Sehen, das sich ergibt, wenn wir mit beiden Augen unsere räumliche Umgebung bzw. Gegenstände wahrnehmen. Unsere Wahrnehmung ist ein von dem Seheindruck erzeugtes, aus den Eindrucken des rechten und des linken Auges kombiniertes Bild. Durch das stereoskopische Sehen wird das Bild vor unseren Augen dreidimensional und räumlich. Genaugenommen handelt sich bei der Kunstidee von Anna Tatarczyk um die Sichtbarmachung der optischen Technik, die unser dreidimensionales räumliches Sehen auszeichnet. Die Optik wird auch als Lehre vom Licht bezeichnet. Durch ihre Beschäftigung mit der Wechselwirkung von Licht und Farben macht Anna Tatarczyk ihre künstlerische Idee erfahrbar. Sie nutzt den pyramidischen geometrischen Körper als Gegenstand ihrer künstlerischen Untersuchung des Verhältnisses von Licht und Farben. Eine Farbe, in die verschiedene Helligkeitsstufen hineingemischt werden, wird durch das Aufhellen hervorgehoben; im Gegensatz dazu mischt die Künstlerin der Farbe verschiedene Dunkelheitsstufen bei, um auf der Leinwand Tiefe zu erzeugen. Allein durch dieses Gestaltungsprinzip werden die Pyramiden erzeugt, die aus der Leinwand zu springen und in den Raum hinein zu treten scheinen. Optisch sind die Pyramiden gegenständlich. Sie provozieren die Augen und bringen einen zu der Überlegung, was man tatsächlich vor sich sieht. Das Farbenmischen ist der wesentliche Teil des künstlerischen Prozesses von Anna Tatarczyk. Besonders bei der diamantähnlichen Pyramide kommt der Aspekt der vielfältigen Licht-Farbe-Wechselwirkung zu tragen. Für die Künstlerin ist dies ist ein quälender Schaffensprozess, um das physische Phänomen der Lichtbrechung durch verschiedene Leuchtkräfte der Farben zu ästhetisieren. Anna Tatarczyk verarbeitet ihre künstlerische Erfahrung von Perspektive nicht durch die Konstruktion eines Bildes, in dem Raumtiefe dargestellt wird. Sie geht vielmehr ihren eigenen Weg, auf dem sie versucht, Licht zu malen. Im Unterschied zu Impressionisten befasst Anna Tatarczyk sich bildnerisch mit dem Verhältnis des Lichts zu den Farben nicht im Rahmen einer Landschaftsdarstellung, sondern baut es in einem geometrischen Körper auf. Offenbar sind dies die Gründe, weshalb ihr künstlerischer Ausdruck, den sie in ihrer 18-jährigen künstlerischen Karriere hervorgebracht hat, reiner und klarer denn je wirkt.




 © Katarzyna Lorenc | Oberschlesisches Landesmuseum


„Form – Farbe – Licht“ – drei Begriffe, die durch einen langen Bindestrich miteinander verbunden oder voneinander getrennt werden. Drei Ingredienzien, die die Kunst von Anna Tatarczyk ausmachen und den Titel unserer Ausstellung bilden. Tatarczyk wurde im oberschlesischen Loslau (Wodzisław Śląski) geboren und kam vor 30 Jahren, 1994, ins Rheinland. Nach dem Studium der Germanistik und Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität widmete sie sich ganz der Malerei. Die Düsseldorfer Kunstprofessoren Jörg Immendorff, A. R. Penck und Siegfried Anzinger haben Sie geprägt. Warum erwähne ich diese biografischen Daten? Zum einen, weil ein Studium an der Akademie ein Qualitätssiegel ist, schließlich zählt die Düsseldorfer Kunstakademie zu den renommiertesten Kunsthochschulen weltweit, zum anderen, weil eine (von mir bisher unerwähnte) Station in Tatarczyks Leben, nämlich eine vierjährige Anstellung am Tanzhaus NRW, für mich in den Arbeiten sichtbar wird. Ich war und bin fasziniert davon, wie die statischen Objekte plötzlich beweglich wirken. Vielleicht hätte ich die Schwingung in die drei Begriffe des Titels einbauen sollen. Beim nächsten Mal.

 

Aber zurück zu der Form. Eine Raute. Eine vollständige Reduktion auf eine Form. Nichts Neues in der Kunst. Wenn wir an die Werke des kroatischen Künstlers Julije Knifer denken, der sein Leben lang Mäander gemalt hat, oder – räumlich viel näher – an den Bottroper Josef Albers mit seiner Homage to the Square (die Huldigung des Quadrats). Hier zeigt sich, wie facettenreich eine Reduzierung sein kann. Sie entfaltet die Form, erzeugt eine meditative Wirkung, wirft Fragen auf, bei Tatarczyk ganz konkret: Wie funktioniert die Diagonale? Die Parallele? Das Entgegengesetzte? Es wird geteilt, multipliziert, errechnet. Für jede Raute gilt: Gegenüberliegende Seiten sind parallel, gegenüberliegende Winkel sind gleich groß, diese werden durch eine Diagonale halbiert, die beiden Diagonalen stehen senkrecht aufeinander und halbieren einander. Ist die Raute die vollkommene Form? Für Tatarczyks Oeuvre: ein klares Ja!

 

Die Farbe. Spätestens seit dem Bauhaus – und in Deutschland wieder seit dem Jubiläumsjahr 2019 – wissen wir um die Wirkung von Farbe und die in Weimar, Dessau und Berlin konzipierte und gelebte Farbenlehre. Doch die nachweisbare Farbforschung reicht weiter zurück. Das subjektive Farbempfinden wird zum kollektiven Erleben. Helligkeit, Sättigung, Kontrast, Farbnuancen, Spannungen zwischen den Farben sind Tatarczyks Werkzeuge. Für sie und letztlich für den Betrachter sind diese Farben eine Übersetzung von Emotionen und Erinnerungen. Mal als Farbpaar, mal als ganze Farbpalette zeigt Tatarczyk die Kraft und Wirkung der Farbe, ihren Zweck, ihre Assoziationen und tiefere Bedeutung. Ganz nach Kandinsky: Blau wirkt kalt, steht für Himmel, Übersinnliches, Unendlichkeit und Ruhe, wirkt konzentrisch, Gelb ist warm, irdisch bis aufdringlich, aber auch aggressiv und exzentrisch.


Die dritte Zutat, von mir bisher als Helligkeit und Sättigung bezeichnet, bezieht sich vor allem auf die dritte Komponente unseres Ausstellungstitels: das Licht. Nur durch dessen gekonnte Brechung entsteht die optische Täuschung, die Raute, die immer wieder aus der Zweidimensionalität in die Dreidimensionalität springt. Ein mathematisches Unterfangen, das hier mit höchster Präzision in Acryl auf naturbelassener Leinwand umgesetzt wurde. In einem für diese Ausstellung geführten Interview äußerte sich die Künstlerin dazu: “Die Illusion der Dreidimensionalität wird durch die scharfe Trennung der Farbfelder und die exakte Abstimmung der Farbnuancen erzeugt. Wichtig für das Gesamtbild sind auch die Proportionen der einzelnen Elemente. Da meine Bilder jeweils aus einem Objekt bestehen, bin ich gezwungen, sehr genau zu arbeiten. Mit den Farben und einer exakten Mischtechnik gelingt es mir, die dritte Dimension hervorzuzaubern und sozusagen »das Licht zu malen«. Obwohl viel Technik und Geometrie im Spiel ist, sind meine Bilder mehr als eine Raute. Die Konzentration auf das Wesentliche und die klare Anordnung innerhalb des Körpers vermitteln Ruhe und Harmonie und strahlen eine meditativ-poetische Aura aus.“

 

Ich erlaube mir, meiner Einführung in das Werk von Anna Tatarczyk noch eine Zutat hinzuzufügen: das Spielerische, das Heitere. Ich verstehe die Werke auch als eine Einladung – natürlich mit der entsprechenden Entfernung – in sie einzutauchen, denn hätten Sie es erraten, dass das Werk “Rubikon Aqua” aus 21 Blautönen und 100 Feldern besteht?

Anna, vielen Dank für diese Möglichkeit, der Kunst auf so vielfältige Weise zu begegnen. Und Ihnen viel Vergnügen!